Europa alleine im Krieg

Esprit Européen #4

Bild: Regina Bender aus Neuss

Im Jahr 1891 malte der norwegische Maler Edvard Much sein berühmtes Bild „Der Schrei“. Er hat dieses Bild nicht etwa im Angesicht eines Schlachtfeldes geschrieben, sondern nach eigenen Aussagen nach einem Spaziergang bei Sonnenuntergang, bei dem ihn eine Angstattacke ereilte:  „Ich stand allein, bebend vor Angst. Mir war, als ginge ein mächtiger Schrei durch die Natur.“ Das Bild ist zu einer populären Darstellung des menschlichen Zustandes und zu einem Symbol der Ängste des modernen Lebens geworden.

Gestern, 134 Jahre später schickt mir meine Neusser Freundin und Malerin Regina Bender das Bild, das Sie hier oben sehen, als Antwort auf eine E-Mail, die ich nach der Münchener Sicherheitskonferenz vom vergangenen Wochenende an sie richtete: „Ich weine um Europa“, hatte ich darin geschrieben. „Lass mich mitweinen“, stand unter dem Bild von Regina. Sind wir die einzigen, die derzeit im Europa weinen? Darüber denke ich gerade nach, nachdem ich mich auf den frühen Morgen durch die allgemeine Nachrichtenlage und Presselandschaft gewühlt habe:

Überall in den Leitmedien vom DLF über den SPIEGEL bis hin zum Tagesspiegel oder der taz überstürzte hysterische Kommentare: Die USA lassen Europa allein, Trump schiebt der Ukraine noch Mitverantwortung zu für den Krieg zu, die transatlantischen Beziehungen seien in Gefahr, das Einzige, was den Frieden in Europa jetzt sichere, sei die weitere Aufrüstung Europas und die Fortsetzung von Waffenlieferungen an die Ukraine.

Das alles wird in deutschen Radioanstalten gesendet und in den Gazetten geschrieben, während die Rheinmetall-Aktien allein in den letzten Tagen um 30 % geklettert sind. Im Deutschlandfunk kommentiert eine unbedarfte Journalistin, dass es der europäischen Waffenindustrie jetzt gut gehe, ein Aufschwung werde erwartet, und – auch wenn das moralisch etwas problematisch sei – könne die Waffenindustrie jetzt zum Hebel für einen wirtschaftlichen Aufschwung werden. Wobei, sie erwähnte es sogar, 80 % der europäischen Waffenkäufe jetzt in den USA getätigt werden … ob dieselben Personen, die so etwas jetzt schreiben und kommentieren, daran denken, dass vielleicht in wenigen Monaten auch ihre Söhne diese Waffen in der Hand halten könnten?

Europa möchte alleine in den Krieg ziehen. Man muss unwillkürlich an eine Bande Halbstarker denken, die sich was beweisen wollen. Der Italiener Thomas Fazi bringt dies in seinem Artikel nach der Münchener Sicherheitskonferenz auf den psychologischen Punkt: Europa plustert sich derzeit militärisch auf, in einer Art psychologischem Überbietungswettbewerb mit den USA: Krieg können wir auch. Zeigen, dass Europa stark ist, machen wir, auch ohne Uncle Sam: Jawoll, können wir ….

Dementsprechend geht die sublimierte Kriegspropaganda weiter und kommen die zu Wort, die ihm, dem Krieg, noch nach dem Mund reden. Während die ukrainischen Soldaten an der Front zu Hunderten desertieren (richtig so!), sendet der Deutschlandfunk z.B. am 21. Februar noch ein Interview mit einer „kämpferischen“ ukrainischen Schriftstellerin, die immer noch vom „Sieg“  der Ukraine träumt, allerdings dabei friedlich in Wien sitzt, während der Bundesgerichtshof sich, fast muss man sagen: erdreistet (!), einen Kriegsdienstverweigerer aus der Ukraine von Deutschland in die Ukraine auszuliefern, wo er den Dienst an der Waffe leisten muss, mit der Begründung, dass die Kriegsdienstverweigerung nicht gelte, wenn das Auslieferungsland durch einen „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ angegriffen worden sei.

Ob der Krieg in der Ukraine wirklich so eindeutig (nur) ein russischer Angriffskrieg war, werden die Historiker erforschen müssen. Zumindest zirkulieren derzeit haufenweise Belege und Eingeständnisse im Netz, dass der Westen, die europäischen Staaten und die NATO schon seit 2014 in der Ukraine waren und die Ukraine willentlich aufgerüstet wurde.

Darum müsste man über den Satz von Donald Trump, dass die Ukraine vielleicht nicht ganz unschuldig an dem Kriegsgeschehen ist, wenigstens diskutieren dürfen, anstatt ihn nur empört von sich zu weisen. Wer hat darauf bestanden, das Ziel einer NATO-Mitgliedschaft in die ukrainische Verfassung aufzunehmen? Wer hat damit in Kauf genommen, dass die Minsker Abkommen 1 & 2 de facto gebrochen wurden? Die Ukraine! Und wer hat dabei zugesehen und mitgemacht? Deutschland und Frankreich. Europa zurück zu einer „Kriegsschuldfrage“, die schon 1914 gestellt und seither nicht eindeutig beantwortet wird. Europa kommt nicht heraus aus dem Krieg! Dabei dachten wir doch im letzten Jahrhundert, wir hätten es geschafft: #NieWiederKrieg, hieß das geflügelte Wort, dessen sich die gleiche EU rühmte, die heute ihr Einheit durch Krieg herstellen will.

Darum weine ich über Europa! Über seine kognitive Dissonanz. Über seine Unfähigkeit, ein kritisches Selbstbild zu entwickeln. Über seine Unfähigkeit, ein Eingeständnis der Mitverantwortung zu machen. Über seine Unfähigkeit, den Frieden zu denken, die Partnerschaft mit Russland (wieder) zu denken. Über seine Kopflosigkeit, weiter an einem Krieg zu zündeln, den die USA gerade beenden. Über seine Unfähigkeit darüber zu trauern, dass Europa, die EU es vergeigt hat: Europe has failed to bring peace. Ich würde Donald Trump hier gerne widersprechen, aber …
Über seine Unfähigkeit, die Tatsache des amerikanischen Rückzugs vom europäischen Kontinent als Chance für den Frieden mit Russland zu begreifen. Über Europas Unfähigkeit, über die Ausgestaltung eines post atlantischen Europas und eine multipolare Weltordnung nachzudenken. Über den unergründlichen, selbstzerstörerischen Sog, in dem Europa zu stecken scheint, ein nihilistischer Taumel, der in die Zerstörung flüchtet, weil das Schuldeingeständnis am eigenen Versagen zu groß, zu schambesetzt ist. Über seine Unfähigkeit, zu trauern über das, was passiert …

Europa, das sich gerade jetzt, in dem Augenblick, in dem Sie diesen Text lesen, von all dem verabschiedet, was es eigentlich seit 70 Jahren gewesen sein wollte und sollte: ein Friedensprojekt, das auf den Gräbern von Verdun und Malmedy eine demokratische Friedensordnung durch Versöhnung und Kooperation errichten wollte. All dies erweist sich jetzt als Augenwischerei. Für Russland gilt Hand-austrecken offenbar nicht! Warum eigentlich? 

Meines Erachtens müsste ein Dreigestirn der EU jetzt nach Moskau fliegen, etwas demütig die Augen senken, sich bei Russland dafür entschuldigen, in dem amerikanischen Stellvertreter-Krieg blind und willfährig mitgespielt zu haben, Putin die Hand schütteln, die Charta von Paris von 1990 und mit ihr die Pläne für eine europäische Sicherheitsarchitektur wieder auspacken, die Pipeline Nord Stream wieder aufbauen, die Sanktionen mit Russland beenden (eine andere Möglichkeit, die Wirtschaft in Europa anzukurbeln, als durch eine Belebung der Waffenindustrie), die Grenzzäune zu Russland abbauen und ein europäisch-russisches Jugendwerk gründen (Link).

Also alles ganz anders machen als Europa es derzeit tut.

 

Wahrscheinlich weine ich alleine …

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Rede auf der Friedensdemo anlässlich der Münchener Sicherheitskonferenz