Ein Pyrrhus-Sieg – oder: von der Erleichterung über das Chaos

Keine der drei “Blöcke“ aber hat eine absolute Mehrheit und kann regieren: 178 Sitze hat der zusammengewürfelte „Front Populaire“ zur allgemeinen Überraschung erzielt, 150 Sitze immerhin die Parteien des macronistischen Regierungsbündnisses „Ensemble“ und schließlich 143 Sitze für das Rassemblement National, der gestern noch von der absoluten Mehrheit träumte und jetzt geprellt erscheint.

Unterschlagen wird dabei in den meisten Nachrichten – so viel Wasser in den Wein muss sein: das Rassemblement ist trotzdem eindeutig stärkste Partei mit einem Zugewinn von immerhin 54 Sitzen im Vergleich zur letzten Parlamentswahl 2022 (2022: 89 Sitze). Wenn man nicht nach „Blöcken“, sondern doch nach Parteien rechnet, aus denen sich die Blöcke zusammensetzen, dann haben neben dem Rassemblement National nur die Sozialisten unter Oliver Faure einen deutlichen Zugewinn an Sitzen zu verzeichnen, wobei Jean-Luc Mélenchon von der France Insoumise innerhalb des Front Populaire voraussichtliche eine relative Mehrheit haben wird – was alle nervt, auch die Linken.

Abwehr ist noch kein politisches Programm

Schaut man auf Wahlkreiskarten, sieht man auffällig viele Departements – im Norden und im Westen Frankeichs – in denen der RN Ergebnisse von 48% oder so erzielt, also kurz vor der absoluten Mehrheit steht.[i] „Die Nationalversammlung repräsentiert Frankreich nicht,“ erklärte deswegen ein sichtlich enttäuschter Jordan Bardella, der sich schon als Premierminister im Matignon gesehen hat und als solcher die letzte Woche in den Medien auch gehandelt wurde. Von amertume, Verbitterung wird gesprochen.

Doch sollte niemand übersehen, was auch in Frankreich in der Sprache einer Flutung gehandelt wird: la maré monte, der Wasserstand steigt, das Rassemblement Nationale nimmt seit Jahren stetig zu, und ob man das mag oder laut sagen möchte oder nicht: das Rassemblement ist der eigentliche Wahlsieger und wenn es noch nicht regiert, dann weil die „Barrage“ – also der Damm gegen die Flutung – der sozusagen aus allen verfügbaren „Sandsäcken“ dagegen aufgebaut wurde, gehalten hat. Hätten die Franzosen nach Verhältniswahlrecht und nicht nach Mehrheitswahlrecht gewählt – ein Wahlrecht, das im zweiten Wahlgang jene „barrage“ erst erlaubt, in dem sich alle Kandidaten zugunsten des „Stärksten gegen den RN“ zurückziehen, dann würde das Rassemblement jetzt in Frankreich regieren. Das Ergebnis konnte nur zustande kommen, weil 80% (220 von 303) der „Désistements“ funktioniert haben: mehr als eine Wahl war es eine Art „nationale Kraftanstrengung“ gegen die „Flutung“.

Der Jubel über den unerwarteten Erfolg des Front Populaire auf dem Place de la République gestern in Paris und in anderen Städten wie Marseille, Lyon oder Lille – und in den internationalen Kommentarspalten von Washington bis Warschau – muss also mit Vorsicht genossen werden: der Sieg des Front Populaire könnte sich als Pyrrhus-Sieg erweisen!

Abwehr ist noch kein politisches Programm und der Preis für die Abwehr des RN ist jetzt erst einmal politisches Chaos und eine allgemeine Fragilisierung des politischen Systems in Frankreich. Momentan scheint niemand zu wissen, was jetzt passieren soll. Am Ende ist nur klar: Macron wird es entscheiden!

Mehrheit der Mitte?

Laut Art. 8 der französischen Verfassung ernennt er den Premierminister. Ohne Rücksprachen, ohne Konsultationen. Alleine. Macron bleibt also erst einmal „Roi Jupiter“, König Jupiter, je größer das Chaos ist. Mal sehen, wen er als Premierminister aus dem Hut zaubern wird, wahrscheinlich oder hoffentlich noch vor Beginn der Olympischen Spiele am 26. Juli. 2024. Die ganze Welt schaut hin….

Die V. Republik, mit der De Gaulle 1958 präsidentielle Klarheit gegenüber dem Parteienchaos der IV. Republik schaffen wollte, eine Art „Weimarer Republik“, die am Ende in ständig wechselnden Koalitionen von zu vielen Klein- und Kleinstparteien ertrunken ist, ist wieder da. Was für die einen jetzt als „Parlamentarisierung“ der V. Republik gewertet wird, ist für die anderen die Wiederholung der IV. Republik in der V. Republik. Vom Ende der V. Republik ist auch schon die Rede.

Macron müsse die Linke jetzt regieren lassen, tönt es aus dem Front Populaire Aber das scheint genau das zu sein, was Macron – und viele andere! – gerade nicht wollen. Die Linke, das ist vor allem Jean-Luc Mélenchon, und seine France Insoumise, der mit Blick auf die Sitze wohl die relative Mehrheit innerhalb des Front Populaire haben wird. Aber genau jener Mélenchon ist das enfant terrible auf der Linken, bei dem alle nur stöhnen, wenn er den Mund aufmacht, zum Beispiel gestern in seiner Ansprache wenige Minuten nach Verkündigung der Hochrechnungen, in denen er sich schon als Premierminister sah. Die größte Erleichterung für viele ist, dass das RN und La France Insoumise zusammen als anti-System-Parteien keine absolute Mehrheit haben. Das wäre nämlich tatsächlich das Risiko einer französischen „Querfront“ gewesen. Uff…

Jetzt geht es offenbar viel um eine Minderheitenregierung, die „Mitte“ des macronistischen Ensemble – die sich mal rechts, mal links – Mehrheiten für einzelnen Gesetzesprojekte sucht. Tatsächlich sieht es nicht nach linker Regierung einer Volksfront aus, sondern eher danach, dass die Macronisten aus den beiden anderen Blöcken – links und rechts – die jeweils „radikalen“ Elemente abspalten, die jeweils moderaten Element herausschälen und in einer „Mehrheit der Mitte“ versammeln: „Alliance des modéré“, die Allianz der Moderierten, heißt das seit heute morgen.

Ni gauche, ni droite?

Rassembler la Gauche oder Rassembler les Francais? Geht es darum, die Franzosen zu einen oder die Linke? Im Moment sieht alles danach aus, als ob Macron im Parlament die Franzosen einen möchte und nicht die Linke. Und die dürfte ihm dabei helfen, indem sie Mélenchon fallen lässt.

Auf der Linken würde Mélenchon sozusagen abgeschnitten, aber Raphael Glucksmann, Oliver Faure oder auch Francois Hollande würden zur „Allianz der Mitte“ gehören; auf der Rechten bliebe das RN draußen, aber die Republikaner, die alten Gaulisten, könnten dazukommen. Als Namen für mögliche Premierminister – Gabriel Attal hat seinen Rücktritt bereits angekündigt – werden bekannte (alte) Namen gehandelt: Gérald Darmanin, Bernard Cazeneuve, Olivier Faure. Jenseits der Jubelschreie von gestern man könnte auch sagen: im Westen nichts Neues…

Macron könnte dann seine liberalen Gesetze als „Block der Mitte“ mit wechselnden Mehrheiten durchbringen, mal mit moderat rechts, mal mit eher links. Ni gauche, ni droite, weder rechts noch links, war der Spruch, mit dem er 2017 angetreten ist und Präsident wurde.

Was dabei wieder auf der Strecke bleiben dürfte, ist das, wonach die Franzosen sich am meisten sehnen: soziale Gerechtigkeit, Kaufkraft, Erhöhung des Mindestlohns, Rücknahme der Rentenreform, also eigentlich die Rücknahme der liberalen Gesetze und Reformen, die Macron in den letzten Jahren gemacht hat. Genau dafür aber dürfte es eben kleine klaren Mehrheiten in der neuen, fragmentierten Nationalversammlung, geschweige denn in einer „Allianz der Mitte“ geben, der linke Sieg des Front Populaire ist hier Augenwischerei. Die Börse ist auch deswegen wohl auffällig ruhig. Auf der Strecke bleiben dürfte auch das Bedürfnis nach mehr „Sicherheit und weniger Migration“, das in den Stimmen für das RN zum Ausdruck kam und die jetzt (wieder einmal) ignoriert werden.

Der politische Kater in Frankreich ist nur aufgeschoben

Kurz: fast alles, was sich die meisten Franzosen – die vielen, die den „rechten“ oder den „linken“ Block gewählt haben – wünschen, dürfte in der neuen Nationalversammlung nicht passieren…. Letzte Woche habe ich über den sogenannten „Block Bourgeois“ gesprochen, den „bürgerlichen Block“, der in Frankreich praktisch gegen die Bevölkerung regiert: im Kern hat er wieder gewonnen. Der zunächst mit Entsetzen beäugte Husarenritt Macrons, Neuwahlen auszurufen, könnte sich als kluger Schachzug erweisen für alle, die vor allem mit der Macron’schen Wirtschaftspolitik zufrieden sind. Das aber sind die wenigsten Franzosen, die aus Angst vor dem RN für den Front Populaire gestimmt haben, aber statt linker Sozialpolitik oder auch nur sozialer Gerechtigkeit jetzt wieder Liberalismus bekommen.

Selten war wohl die gefühlte (oder verbreitete?) positive Stimmung nach Wahlen so weit entfernt von der politischen Realität in Frankreich wie nach diesen Wahlen. Frankreich ist in Aufruhr, und irgendwie in Auflösung – wie viele westliche Parteiensysteme im Übrigen auch in anderen Ländern, wo die Koalitionsbildung fast unmöglich geworden ist. Marcon ist jedenfalls 2027 weg, seine Gesetze werden Bestand haben. Der politische Kater in Frankreich ist nur aufgeschoben. Auf die Präsidentschaftswahlen von 2027 darf man gespannt sein!

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