Was ist die Nation?

Esprit Européen #1

Vor ein paar Tagen auf X schrieb @Ps15953Angelika „In Akademikerkreisen geht man davon aus, dass es in 20 Jahren keine Nationalstaaten mehr gibt, nur noch ein Vereintes Europa. Siehe @ulrikeguerot bei Markus Lanz 2020“

Erst stutzte ich: rollt da der nächste „Shitstorm“ auf mich zu? Der Tonfall des Postings klingt ja skandalisierend: „Hui, in Akademikerkreisen denkt man bestimmte Sachen … schaut her: ganz gefährlich: die Nationalstaaten werden abgeschafft“

Dann fiel mir jener alte „Akademikerwitz“ ein: Why academics fight so hart? Because the stakes are so low“ Warum streiten sich Akademiker so heftig (um Definitionen, Begriffe, Theorien, Fußnoten, Veröffentlichungen oder was auch immer): weil es um fast nichts geht. Selten wurde vom sogenannten Elfenbeinturm heraus die Welt verändert … das würde ich @Ps15953Angelika gerne zurufen und hoffe, dass sie darüber lacht!

Das Posting ist daher ein Kind seiner Zeit: Ein Posting, das a). Nicht zwischen einer Feststellung (es gibt eine akademische Debatte über Europäisierung) und einer Meinung (ich bin für die Abschaffung der Nationalstaaten) unterscheidet; ein b). in seiner Verkürzung nichtssagend ist (was ist ein Nationalstaat? Was ist ein vereintes Europa?) und c). Das nicht einmal kontextualisiert, dass man etwas, was man vielleicht 2020 gesagt hat, heute vielleicht nicht mehr formulieren würde … vielleicht, weil man etwas dazugelernt hat oder sich einfach die Zeiten geändert haben – und damit auch die Meinungen über das, was politisch möglich ist oder Not täte.

Ich komme noch aus einer Zeit, als in den 1990er und 00er Jahren ernsthaft und kreativ über eine geeinte europäische Zukunft nachgedacht wurde, und darüber, wie diese institutionell, demokratisch und sozial für die europäischen Bürger aussehen könnte. Dieses akademische oder auch öffentliche Nachdenken an sich ist seit dem gescheiterten europäischen Verfassungsentwurf von 2003 eingestellt worden – leider, wie ich persönlich finde! Denn nichts bräuchte der europäische Kontinent in meinen Augen mehr, als eine kreative Debatte über die Rolle Europas in der Welt im 21. Jahrhundert, angesichts der Formation der BRICS-Staaten einerseits und des amerikanischen MAGA-Projekts andererseits. Ich empfehle dieses Video!

Wenn Europa im 21. Jahrhundert überhaupt eine Chance haben soll, dann bräuchten wir m.E. dringend eine Art MEGA-Video („Make Europe great again“), in dem alles drin ist, was Europäer zum Träumen bringt: die Akropolis, die Französische Revolution, die Mona Lisa, Leonardo da Vinci, Picasso, Bach, Chopin, Dali, die Alpen, die Karpaten, Baguette und Whiskey, die Kathedrale von Reims und der Kölner Dom, die hanseatischen Städte und Krakau, Bismarck, der westfälische Frieden, Charles de Gaulle, Charlemagne, Luther, Napoleon, Leibniz, Goethe, Tolstoi, Balzac, norwegische Fjorde, belgische Kneipen, Siemens und VW und Olivetti u.v.a.m.

Aber offenbar will gerade niemand von einem starken Europa träumen, sondern vielmehr die Flucht ins Nationale suchen, wobei meistens undefiniert bleibt, was jetzt der „Nationalstaat“ ist: Malta? Estland? China? Alles „Nationen“?

Auffällig auch, dass viele derzeit eher kein Problem mit der Abschaffung des Staates zu haben scheinen, ein „libertäre“ Momentum liegt in der Luft, der „übergriffige“ Staat muss zurückgedrängt werden, er müsse „Nachtwächterstaat“werden … was aber machen Bürger ohne Staat? Ohne Staat keine Bürger und auch keine Bürgerrechte … und was würde die Nation ohne Staat machen? Wenn es also keinen Nationalstaat, sondern nur noch die Nation gibt … Kann man den Staat abschaffen oder zurückdrängen und die Nation stärken? Fragen über Fragen …

Die Nation scheint nicht mehr so richtig zu wissen, wer oder was sie ist – aber die Angst, dass sie bald nicht mehr da sein könne, diese Angst treibt viele um.

Um ein wenig nachzudenken, Begriffe zu entwirren, Hypothesen zu unterbreiten und Entwicklungslinien nachzuzeichnen, dafür sind Akademiker da und dafür sind sie meistens gut. Daher für diejenigen, die sich also etwas ernsthafter mit der Frage beschäftigen wollen, was die Nation ist oder wie man gar eine „bauen“ kann; oder was der Raum, das Gefäß für eine Demokratie ist und wie groß sie sein kann, oder wie sozial eine Nation sein sollte der findet hier ein paar Links zu Büchern, die vielleicht erhellend sind oder zum Denken anregen.

Und wer hingegen – oder auch - darüber nachdenken möchte, wie ein souveränes, starkes Europa aussehen könnte, wie wir Europa wiedererfinden könnten, was Globalisierung und Europäisierung miteinander zu tun haben oder wie verschiedene Demokratie-Ebenen in einem „globalen Kosmopolitismus“ miteinander verschränkt werden könnten, der findet hier Anregungen und weiterführende Literatur.

Denn das Nachdenken darüber abschaffen wäre doch schade! Im Übrigen hat schon Immanuel Kant in seinem berühmten Buch zum ewigen Frieden darüber nachgedacht, wie die Welt ein friedliches Ganzes werden könnte und sich die „Weltbürger“, von denen er spricht, auf Grundregeln eines friedlichen Miteinander verständigen. Die Nation kommt in dem Büchlein nicht vor. Der gute Immanuel Kant, heute wäre er ein „Globalist“ …

Anders formuliert: Nichts Neues unter der Sonne …

Ulrike Guérot

23. Januar 2025

*Einige Links führen zu Büchern, die ich empfehle. Es handelt sich um sogenannte Affiliate-Links. Für Sie entstehen dadurch keine zusätzlichen Kosten, wenn Sie etwas kaufen. Mein Team und ich erhalten jedoch eine kleine Provision, die uns dabei unterstützt, weiterhin hochwertige Inhalte für Sie zu erstellen.

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